Hier die von Martina Maaßen am 17.12.2019 gehaltenen Haushaltsrede
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Es gilt das gesprochene Wort!
Frau Bürgermeisterin, meine Damen und Herren,
ein kommunaler Haushalt ist immer auch ein Fahrplan. Wer ihn lesen kann, der weiß, wo es hingehen soll mit einer Stadt.
Der städtische Haushalt macht Planungen deutlich. Er ist die
Handlungsgrundlage für Verwaltung und Rat, dient der Steuerung und
Kontrolle. Bürger*innen können sich darin informieren, was mit ihrem
Steuergeld passiert.
Der Haushaltsentwurf einer Verwaltung ist daher
auch nicht einfach ein Zahlenwerk – er ist ein politisches Dokument,
ein Programm – und wir tun gut daran, ihn gründlich zu lesen und auch
grundsätzlich zu diskutieren.
In einem kommunalen Haushalt müssen Ziele und Strategien deutlich werden – kurz-, mittel- und langfristig. Und genau das vermissen wir in diesem Entwurf an vielen Stellen.
Sicher, viele Angelegenheiten einer Kommune sind bereits durch Bundes- oder Landesrecht bestimmt. Wir können längst nicht über alles selbst entscheiden, was hier in Viersen so mit öffentlichen Geldern angestellt wird.
Was wir aber hier in diesem Dokument vermissen – das ist der politische Wille, Gestaltungsspielräume zu finden und auch zu nutzen, die einer Kommune zustehen!
Frau Bürgermeisterin! Sie haben sich vor einigen Wochen für die Ausrufung des Klimanotstands ausgesprochen – wenn auch nur in einer abgespeckten Variante. Selbst dabei sind Sie allerdings schon über das Votum Ihrer eigenen Verwaltung gestolpert.
Dieser Haushalt könnte jetzt Ihr Angebot an all die Bürgerinnen und Bürger sein, die sich mit ihren Bürgeranträgen an den Rat gewandt haben, die an vielen Freitagen auch in Viersen auf die Straße gegangen sind und gehen, um der Politik mehr Klimaschutz abzutrotzen.
Sie, Frau Bürgermeisterin, hätten den nötigen Gestaltungsspielraum gehabt – zum Beispiel bei der Ausweisung neuer Baugebiete!
Doch was sehen wir? Mehr als ein Blockheizkraftwerk ist dabei bisher nicht herausgekommen.
Und anstelle nachhaltiger Flächenbewirtschaftung, Flächenrecycling und Flächeneffizienz haben wir gesehen, was Sie sich unter Stadtentwicklung vorstellen: 10 Flächen für neue Siedlungen haben Sie für den Regionalentwicklungsplan angemeldet – 9 davon auf der „Grünen Wiese“ – und nur eine davon Flächenrecycling – und das, obwohl die Bezirksregierung uns bereits einen kommu-nalen Flächenüberhang attestiert hat!
10 mal Legoland mit regem Pendelverkehr in die Düsseldorfer City – mit allen Problemen, die wir jetzt schon auf den Straßen und Autobahnen in Richtung Großstadt haben. Es waren dann im Beschluss des Regionalrats nur noch 4 enthalten – aber das ist das Ergebnis einer neutralen Prüfung – und nicht Ihrer.
Und wozu,
Frau Bürgermeisterin, brauchen wir ein Wachstum bei der Einwohnerzahl?
Sorgen wir doch erst einmal richtig für die Bürgerinnen und Bürger, die
hier schon leben! Zum Beispiel mit ausreichend gesicherten Fahrradwegen.
Denn Gestaltungsspielraum wäre auch da, wo wir dringend ein neues
Verkehrskonzept brauchen! Und zwar für ganz Viersen! Wir brauchen keinen
Traum von einer Fahrradspur auf der Freiheitsstraße – wir brauchen
gleichberechtigte Verkehrsstrukturen für Fußgänger, Radfahrer und
Autofahrer! Überall!
Was wird aus Ihrem Gestaltungsspielraum für
Stadtgrün und Stadtnatur? Wir GRÜNEN entwerfen im Umweltausschuss schon
seit Jahren Anträge und Ideen, wie wir der Natur mehr Raum geben und
unsere Stadt für die Menschen grüner und attraktiver machen können.
Was ist mit dem „Zukunftskonzept Stadtgrün“? Wir haben es bislang nicht gesehen – Sie vielleicht, meine Damen und Herren?
Stattdessen fallen in Viersen immer noch viel zu viele Stadtbäume für
die aufwendige und teilwei-se überflüssige Neugestaltung von Plätzen und
Straßen – ich denke hier an den „Alter Markt“ und die „Lange Straße“!
Gestaltungsspielraum gibt es auch bei der Unterbringung von
Flüchtlingen! Eine menschenwürdige Unterbringung kann für uns nur in
Wohnungen und dezentral erfolgen!
Dazu später mehr.
Meine Damen
und Herren, der Haushaltsentwurf der Stadt Viersen für das Jahr 2020
umfasst 1148 Seiten. Nicht mal auf einer Seite finden wir Ziele und
Strategien.
Nein – genau auf einer Viertel Seite lesen wir Ihre langfristigen Ziele – kurz zusammengefasst:
Viersen attraktiv gestalten, Standortfaktoren für den Einkaufs- und
Wirtschaftsstandortverbessern, Gewerbeflächenkonzept,
Schulinfrastruktur, Modifizierung des Kreditdeckels. Danke dafür!
Meine Damen und Herren, das hört sich für mich an, wie direkt von der
Stange irgendeines Instituts für Stadtentwicklung und Planung. Wenig
inspiriert und wenig inspirierend!
Ich frage: Wo ist da der Wille zur politischen Gestaltung, wo ist Ihre Vision für unsere Stadt, Frau Bürgermeisterin?
Lebendige öffentliche Infrastruktur? Da hätte man wirklich auch in den
vergangenen vier Jahren schon manches zu beitragen können!
Oder
empfinden Sie es etwa als belebend, als Fahrradfahrer an Bettelampeln zu
stehen oder den Inhalt eines Fahrradkorbes in den Schlaglöchern des
Fahrradwegs zwischen Dülken und Boisheim zu verlieren?
Einkaufsstandort? Wie viele Leerstände haben wir denn in Dülken derzeit?
40? Aber wir können ja jetzt auf dem Alter Markt parken und eine Runde
mit dem Auto über die Lange Straße drehen. Ja genau, 17 Bäume fallen
hier für 22 Parkplätze und geschlossene Läden.
Gewerbeflächenkonzept? Haben wir die Worte „nachhaltig und klimaneutral“ etwa überlesen? Nein, sie sind gar nicht da.
Schulinfrastruktur? Gut – die Mittel für „Gute Schule 2020“ wurden
beantragt und verplant. Aber erst jetzt soll einem neuen Mitarbeiter
aufgefallen sein, dass die Hardware veraltet ist? Wie kann das sein?
Auch wer nicht gerade im Rathaus saß, konnte doch das Rufen der
Schulleitungen nach neuer IT-Ausstattung wirklich nicht überhören.
Modifizierung des Kreditdeckels? Aus unserer Sicht das einzig belastbare
und nachvollziehbare Ziel, das von der Verwaltungsspitze benannt ist:
Wir Grünen unterstützen tatsächlich die vorsichtige Anhebung des
Kreditdeckels, um Investitionen in die Zukunft zu stärken.
Den Haushaltsentwurf unterstützen wir daher aber noch lange nicht.
Meine Damen und Herren, dieser Haushaltsentwurf ist weder mutig, noch nachhaltig, noch besonders sozial oder menschenfreundlich.
Mutig sein heißt, Haltung zeigen. Mutig sein heißt, Verantwortung tragen.
Mutig sein ist nicht einfach. Mut bedeutet, unangenehme Themen anzusprechen, unangenehme Entscheidungen zu treffen und diese dann auch durchzusetzen.
Ihre Politik, Frau Bürgermeisterin, bringt unsere Stadt hier jedenfalls kaum voran.
Als Vision höre ich vor allem: eine Fahrradspur auf der Freiheitsstraße!
Dabei gibt es Handlungsfelder genug – ich habe eben einige aufgezählt.
Nicht erst seit zwei extremen Hitzesommern und Bürgeranträgen für den Klimanotstand sollte es unser Ziel sein, alle verfügbaren Kräfte für den Klimaschutz zu mobilisieren, damit wir auch weiterhin auf dieser Erde als Menschheit existieren können.
Kein Wort darüber im Haushalt Viersens für das Jahr 2020. Die einzigen Mittel, die im kommenden Jahr konkret für mehr Klimaschutz im Haushaltsentwurf sorgen, sind die 190.000 Euro, die wir im Haupt- und Finanzausschuss für Solaranlagen hineinverhandelt haben – Mittel, die eigentlich längst beschlossen waren, aber nie verausgabt und dann schließlich auch noch vergessen wurden. Danke auch dafür!
Was bleibt, das sind Maß und Mitte! Und da sind Sie sich als Bürgermeisterin, die sich parteipoli-tisch der SPD verbunden fühlt, mit Ihren christdemokratischen Mitbewerbern sicher einig: Das gro-ße Geheimnis dieser nie erklärten, in Viersen aber schon seit Jahrzehnten praktizierten – wenn auch nicht bewährten – Großen Koalition – das sind Maß und Mitte. Oder drehen Sie es einfach um: Mittelmaß!
Auf die Frage „Haben Sie eine Vision für Viersen?“ haben Sie in Ihrem Sommerinterview geantwortet: „Meine Vision heißt ‚Balance‘“. Nein, Balance ist keine Vision, sondern die Verwaltung des Sta-tus quo! Wir Grünen erwarten von Ihnen: Mut! Mut, den es braucht, um eine gesellschaftliche Ver-antwortung zu tragen.
Wägen wir gerne ab zwischen ökologischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Belangen. Aber dann gilt es, mutig Verantwortung zu zeigen, Entscheidungen mutig zu treffen – und diese mutig umzusetzen!
„Balance“ aber – das ist das genaue Gegenteil von Mut!
Was „Balance“ hier in Viersen bedeutet, meine Damen und Herren, haben wir spätestens bei der Ab-lehnung unseres Antrages erlebt, die Stelle des Energiemanagers wieder einzurichten, der das Eigenstromkonzept zum Beispiel durch neue Solar-Anlagen konsequent hätte umsetzen können.
Wissen Sie eigentlich, dass das nachgewiesene Potenzial für Photovoltaik-Anlagen in Viersen derzeit nur zu 4,2 Prozent genutzt wird? Es braucht tatsächlich nicht einmal viel Mut, hier in Anlagen und Personal zu investieren. Nirgendwo rechnet sich Klimaschutz so sichtbar wie bei der Stromer-zeugung aus Solarkraft.
Während wir also zusätzliche Stellen im Haushalt für die Wirtschaftsförderung einrichten werden, ohne dass der Stellenplan dafür ausgeweitet werden muss, war für die Investition in einen Energiemanager in Ihrer politischen Welt dann leider kein Platz mehr. Bedauerlich!
Für mich ist dies ein sehr deutliches Zeichen dafür, wie es um den Klimaschutz hier in Viersen bestellt ist.
Und auch bei der Menschenfreundlichkeit sehe ich hier in Viersen noch erheblichen Nachholbedarf: Unsere Fraktion trägt die weitere Unterbringung von annähernd 40 alleinstehenden Flüchtlingen in Wohncontainern im Gewerbegebiet Schmiedestraße nicht mit.
Wir würden es gerne nachvollziehen können, warum dieses Grundstück nicht an einen Gewerbetreibenden verkauft werden kann, aber Flüchtlinge auf dieser Fläche untergebracht werden können. Frau Bürgermeisterin, ich persönlich glaube kaum, dass die Beschaffenheit des Bodens dafür der Grund sein kann. Mehr darf ich hierzu ja öffentlich nicht sagen, weil Sie uns mit dieser Frage ja in den nicht-öffentlichen Teil der Beratungen hineingezwungen haben.
Und wir fassen es einfach nicht, dass die Verwaltung und die Mehrheit hier im Rat über zwei Millionen Euro für die Errichtung eines neuen Containerdorfes ausgeben will, das ein baufälliges altes Containerdorf ersetzen soll.
Nur noch einmal zur Erinnerung: Zwei Personen, zwei Betten, zwei Tische und zwei Schränke – auf nur 14 Quadratmeter! Jede Garage ist heute größer!
Dabei stehen aktuell über hundert Zimmer in anderen Unterkünften für Flüchtlinge in Viersen leer! Diese könnten wir sofort wieder belegen, auf ein Containerdorf verzichten und 2,1 Millionen Euro in eine nachhaltige, ökologische und klimaneutrale Stadtentwicklung investieren.
Für zwei Millionen Euro könnten wir auch einfach über Jahre hinaus passende Wohnungen für die-se Flüchtlinge anmieten.
Frau Bürgermeisterin, liebe Kolleginnen und Kollegen der nicht erklärten Großen Viersener Koalition: Sind Ihnen hier nicht die Maßstäbe ein wenig verrutscht?
Ihre Begründung: Dort sind die Flüchtlinge keine Gefahr für die Bevölkerung. Ein Witz, wenn man weiß, dass die Einrichtungen völlig offen sind, dass die Bewohner jeden Tag in der Stadt unterwegs sind – und dass trotz dieser Tatsache bereits seit vielen Jahren überhaupt nichts Gravierendes in diesem Zusammenhang vorgefallen ist.
Ja, ich weiß: Es handelt sich um Menschen mit teilweise problematischen Biographien und auch mit psychischen Erkrankungen. Aber sie sind nicht im Gefängnis und sie sind nicht in der Psychiatrie.
Es sind ganz sicher Menschen, die es im Leben nicht leicht gehabt haben; gerade deshalb haben wir die Verpflichtung, sie menschenwürdig unterzubringen und sozial zu unterstützen.
Meine
Damen und Herren, auffälliges soziales Verhalten und eine prekäre
Lebens- und Wohnsituation bedingen sich gegenseitig. Das ist für mich
auch ein passender Ansatz und eine Chance, den sozialen Teufelskreis
dieser Menschen zu durchbrechen.
Ich weiß, wovon ich spreche. Ich
habe selbst über 10 Jahre die Flüchtlinge in der Schmiedestraße als
Sozialpädagogin betreut. Deshalb hat mich ein Wort der neuen
Sozialdezernentin persönlich tief betroffen gemacht. Sie sagte: Die
zentrale Unterbringung in diesem Containerdorf sei „alternativlos“!
„Alternativlos“ – das war das Unwort des Jahres 2010. Bedeutung laut
Duden: keine Alternativlösung zulassend, keine andere Möglichkeit
bietend, ohne Alternative
Frau Bürgermeisterin, Frau Bern, haben
Sie überhaupt Alternativen ernsthaft geprüft? Sie haben sich auf eine
Vorlage aus dem letzten Jahr gestützt. Sie haben keine weitere soziale
Betreuung in Betracht gezogen und Sie setzen Menschen zu zweit auf 14
Quadratmetern in einen Container ins Gewerbegebiet.
Auch hier fehlen Mut und politischer Wille, eine unpopuläre Entscheidung zu treffen und umzusetzen.
In diesem Fall besonders folgenreich, denn die Entscheidung für neue
Container am alten Standort bedeutet nicht nur eine weiterhin
unzumutbare Wohnsituation für die Flüchtlinge, sondern auch eine völlig
unnötige Belastung für unseren Haushalt. 2,1 Millionen Euro – das macht
mindestens 42 Photovoltaikanlagen für den Klimaschutz mit nahezu
garantierter Rendite. Oder 2 Sozialarbeiter für die nächsten 20 Jahre.
Oder neue Schultoiletten. Oder Setzlinge, mit denen wir die zerstörten
Waldflächen wieder aufforsten könnten. Oder, oder, oder…
Und auch
deshalb Frau Bürgermeisterin, unterstützten wir Grünen den Antrag von
FÜR VIE im HuF auf Streichung der finanziellen Mittel zur Einrichtung
eines neuen Containerdorfs für Flüchtlinge.
Meine Damen und Herren, mit Michel Friedmanns Worten komme ich zum Ende:
„Viele junge Menschen haben in den letzten Monaten wieder Mut. Sie
protestieren, sie demonstrieren, sie mischen sich ein, sie regen uns
auf, sie regen uns an, sie konfrontieren uns mit unseren Erfolgen und
Misser-folgen. Sie verlangen mehr, als wir bisher getan haben. Sie
machen uns Mut, auch wieder Mut zu haben. Endlich!“ Zitatende
Fehlender Mut beim Klimaschutz, fehlende Verantwortung bei der
Unterbringung von Flüchtlingen, fehlende Ideen im Verkehrssektor,
fehlende Konzepte für mehr Natur in der Stadt!
Auch insgesamt zu
wenig Mut, zu wenig Verantwortung – das sind die Beweggründe der grünen
Fraktion, den Haushalt 2020 abzulehnen.
Aber dennoch ein Dank an die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kämmerei, die uns auch in diesem
Jahr wieder einen nachvollziehbaren, leider aus grüner Sicht jedoch
nicht beschlussfähigen Haushalt vorlegten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!